Wider die Lautsprecher
Scheinriese
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Unserem Kolumnisten Benjamin Minack ist es auf Twitter zu doof geworden. Zu viele inszenierte Skandale. Dann doch lieber nette Bilder auf Instagram.
Einmal im Jahr – zum Ende des Sommers – treffe ich zwei alte Kollegen, die inzwischen so etwas wie Freunde geworden sind, zu einem Wanderausflug irgendwo im wunderschönen Brandenburg. Die Stärken und Schwächen der jeweils anderen kennen wir sehr gut. Wir wissen sicher, was den anderen gerade beschäftigt. Welche Fragen ihn umtreiben, was seine Themen sind. Die kleinen Bösartigkeiten für die Wanderpausen lassen sich also gut vorbereiten. Getreu dem weisen Sinnspruch: Lieber einen guten Freund verlieren als einen guten Witz liegen lassen.
In diesem Jahr gab es leider einen Spannungsabfall. Alle drei Mitglieder der Reisegruppe hatten ihren Social-Media-Konsum der jeweils aktuellen Auftragsoder auch Gemütslage angepasst. Meine Gemütslage beispielsweise passt schon eine ganze Weile nicht mehr zu Twitter. Von doof über sinnfrei bis ekelhaft, eigentlich ist – nein, war für mich jeden Tag die ganze Bandbreite auf Twitter zu finden.
Die Zeichenbeschränkung scheint keine inspirierende Limitierung für guten Austausch mehr zu sein, sondern vielmehr Grundlage für einen besonders sinnlosen. Ich war also raus, ebenso wie Mitreisender Nummer zwei. Der wiederum bevorzugt gerade die „gute Stimmung“ auf Instagram und die vielen Bilder schöner Häuser, Menschen, Mahlzeiten ...
Blöd für uns. Denn offenbar geschah auf Twitter all das, womit wir unseren Begleiter 72 Stunden am Stück hätten aufziehen können. Trolls, Pseudo-Investigativjournalisten, Stalker, Nazis: All das, was seinen Vorgesetzten so richtig Ärger machen konnte, schien dort unterwegs zu sein. Das merkten wir aber erst gegen Ende des dritten Wandertags, als wir zu fünf der dargebotenen „Skandale“ nicht wissend nicken oder schlau kommentieren konnten. Mehr als „interessant, klingt ausgedacht“ kam uns nicht über die Lippen.
Einer dieser inszenierten Skandale hatte es bis in irgendeine Regionalzeitung geschafft. Das war es dann auch. In der Echokammer aber tobte es heftig. Diese Echokammern sind ja schon oft Thema in der Fach- und Publikumspresse gewesen. Klar: Wenn sich User ausschließlich mit Gleichgesinnten vernetzen und gegenseitig Inhalte präsentieren, die ihre Weltsicht bestätigen, dann ist das eher die Minimalkonfiguration von Pluralismus.
Es beruhigte mich dann aber, in einer Studie zur Rolle von Twitter in der politischen Kommunikation zu lesen, dass diese Krankheit nicht alle Menschen befallen muss: „So zeigten Studien, dass insbesondere Vertreter extremer Ideologien Medien auswählen oder empfehlen, die ihrer Weltsicht entsprechen und ihre Identität stärken. Sie sind zudem stärker untereinander vernetzt und isolieren sich deutlicher von Andersdenkenden“.
Ich habe die Twitter-App nun im Unterordner eines Unterordners meines iPhones vergraben. Wir haben den demokratischen Diskurs schließlich nur von unseren Kindern geborgt – mögen diese von Twitter verschont bleiben. Bei Instagram ist es auch schön.
Diese Kolumne ist zuerst in der Oktober-Ausgabe (10/2020) des prmagazins erschienen.

Die prmagazin-Ausgabe 10/2020 – darin unter anderem: Historische Nullleistung: Im Pressestellentest der Streaming-Dienste zeigt sich Disney von seiner schlechtesten Seite. Es gibt aber auch echte Lichtblicke. |